Gastartikel von Unternehmensberater Johannes Maib: Procrastination
PROCRASTINATION (deutsch Verschleppen), was für ein schönes Wort. PRO steckt darin, und das steht FÜR irgendwas. Und dann NATION, das ist wahrscheinlich der Grund weshalb dieses Wort in Amerika so beliebt ist. Aber wofür steht CRASTI?
Vielleicht hat es irgendetwas mit meinem vollen Schreibtisch zu tun. Na gut, wenn nach 14 Tagen Abwesenheit der Schreibtisch mit unerledigter Post und ungelesenen Zeitschriften bedeckt ist, dann ist das eigentlich nichts Besonderes. Aber wenn dieser Zustand nach einer Woche noch nicht viel besser ist, ist das dann CRASTI? Ein talentierter ehemaliger Kollege besaß eine Art optisches Ordnungssystem: Die Sachen, die zu bearbeiten waren, mussten zu sehen sein. Sie lagen nebeneinander auf dem Schreibtisch. Wenn der nach kurzer Zeit nicht mehr ausreichte, kam der Schreibtisch des Tischnachbarn dazu, und wenn auch der voll war oder der Tischnachbar reklamierte, dann musste der Fußboden herhalten. Auf diese Weise stößt die Aufschieberitis schnell an natürliche Grenzen und erledigt sich (fast) von selbst. Heute ist dieser Kollege erfolgreicher Geschäftsführer in einem bekannten Unternehmen.
Es gibt so viele Theorien und Erklärungen über die Aufschieberitis wie Ratgeberbücher: Angst vor dem Versagen, Suche nach dem Adrenalin-Kick, unerfüllbarer Perfektionismus, Vermeidung von negativen Emotionen, keine Lust – und jedes Jahr wieder das überraschend frühe Auftreten von Weihnachten.
Gut, ich hätte gern jeden Abend einen aufgeräumten Schreibtisch. Aber erstens bezahlt uns kein Klient für einen aufgeräumten Schreibtisch ("fehlende Konsequenz bzw. Belohnung") und zweitens hat der Tag halt nur 24 Stunden aber es gibt für 48 Stunden zu tun. Es ist eben alles eine Frage der Prioritäten.
Ich bin nicht der erste, der das feststellt. Aber war es wirklich US Präsident Eisenhower, dem zum ersten Mal auffiel, dass es Aufgaben gibt, die wichtig sind und andere, die unwichtig sind? Und diese können gleichzeitig dringend oder nicht so dringend sein?
Nicht Eisenhower, sondern Stephen Covey gebührt die Ehre, aus diesen banalen Erkenntnissen eine Industrie geschaffen zu haben. Mit Büchern wie "First Things First" (schon der Titel ist Programm!) und Seminaren, zeigt er Wege aus dem Dilemma. Das Dringende drängt sich vor, bis auch das weniger Wichtige nicht mehr aufzuschieben ist. Während das langfristig Wichtige, das es eigentlich wert ist, dass wir ihm mehr Zeit widmen, zu kurz kommt. Und so banal wie es zunächst erscheint, so gescheit sind seine Überlegungen – man muss halt nur danach handeln.
Und? Alles schon bekannt? Und funktioniert es? Oder doch leider nicht?
Dann kann ich nur wenig Hoffnung machen. Mein verehrter Psychologie-Professor Lutz von Rosenstiel wusste es schon damals: Von den Zeitmanagement-Techniken profitieren diejenigen am meisten, die ohnehin schon gute Erfahrungen mit eigener Zeitplanung gemacht haben. Systematische Zielsetzung, klare Prioritäten, Nutzung der produktivsten Zeiten – das alles bringt nicht viel als Hauruckaktion, sondern es ist eine Daueraufgabe.
Und man muss über die eigenen Prioritäten und den Tagesablauf bestimmen können. Der Chef des Vorstandsbüros eines Klienten schilderte mir verzweifelt, wie ihm immer neue Aufträge "eingekippt" werden und sich die tägliche Hektik mit ein wenig besserer Planung und Prioritätensetzung vermeiden und die Produktivität um mindestens ein Drittel steigern ließe. Der Vorstand war einverstanden, versprach die Prioritäten zu ändern und besser zu planen und kürzte das Budget. Armer Vorstandsassi!
Und mein Schreibtisch? Besser nicht hinsehen, ich glaube, das ist "crasti"…
In diesem Sinne viel Erfolg mit den richtigen Prioritäten!
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Dieser Artikel wurde in den Freelance-Market-News 06/2015 veröffentlicht.